August Stramms lyrische Syntagmatik

Fritz U. Krause

„Pö“, nicht „po“ - über „allessagende“ Lautgesten

August Stramms lyrische Syntagmatik

 

Das Sprachhandeln des westfälischen Dichters August Stramm (29. Juli 1874 - 1. September 1914) ist ein repräsentatives Beispiel für das Spannungsfeld von Reflektieren und Benennen. 

Stramm hat für seine Dichtung das Verfahren der sprachlichen Kondensation gewählt. Sie werden also, so weit es Stramm angeht, etwas über das Spannungsfeld von analytischem und synthetischem Sprachbau hören. Stramm bevorzugt synthetischen Sprachbau und steht damit im Gegensatz zu historischen Tendenzen des Deutschen. Es zeigt sich bei ihm die Neigung, zugunsten infiniter Formen auf innere und äußere Flexion (F. Schlegel) zu verzichten: Schreiten Streben / Leben sehnt. Er möchte sogar hinter die Grundmorpheme zurück zu dem „allessagenden“ Lautgestus: Sprachverdichtung, ein „schwarzes Loch“ (ein Punkt, kosmisch gesehen), auf den die Bedeutungsmasse zustürzt.

Bei Stramms sprachlicher Kondensation verdampfen, um im Bild zu bleiben, die flüchtigen sprachlichen Teile. Was bleibt ist ein Konzentrat. Wie seine zeitgenössischen Leser darauf reagiert haben, soll das folgende Zitat demonstrieren:

Von einem Schriftwerk kann man aber nicht sprechen, wenn Worte ohne sinngemäße Verbindung aufgereiht werden, - Worte denen man noch nicht einmal anzusehen vermag, ob es Haupt- oder Tätigkeitsworte sind, ob sie als Subjekt oder Prädikat im Satz auftreten - soweit überhaupt bei Mangel jeglicher Interpretation von einer Satzbildung die Rede sein kann.

Für uns aber ist Stramms Sprachverhalten deshalb aufschlußreich, da er Ausdrucksformen findet, die unserem Sprachempfinden rückläufig vorkommen.

Zwei Gedichte August Stramms, 1914 in Der Sturm erschienen und zur Gruppe der Liebesgedichte gehörend, nutze ich als Korpus, um Charakteristisches seines Sprachhandelns im Lichte sprachanalytischer/sprachsynthetischer Annahmen zu veranschaulichen.

 

Schwermut

Schreiten Streben

Leben sehnt

Schauern Stehen

Blicke suchen

Sterben wächst

Das Kommen Schreit!

Tief 

Stummen 

Wir.

 

Das Gedicht Schwermut hat das vergebliche Warten auf ein Lebensziel zum Inhalt. Die Vergeblichkeit führt zu einem völligen Verlust der Vitalität.

Weniger abstrakt, aber auch nicht konventionell, ist das zweite Gedicht:

 

Begegnung

Dein Gehen lächelt in mich über

Und

Reißt das Herz.

Das Nicken hakt und spannt.

Im Schatten Deines Rocks

Verhaspelt 

Schlingern

Schleudert 

Klatscht!

Du wiegst und wiegst.

Mein Greifen haschet blind

Die Sonne lacht!

Und 

Blödes Zagen lahmet fort

Beraubt beraubt!

 

Beide Gedichte findet man in der Anthologie DU. Das Gedicht Begegnung hat den vergeblichen Versuch einer Zuwendung zum Inhalt. Die Vergeblichkeit führt zu einer öffentlichen Blamage: Die Sonne lacht (darüber).

Das Gedicht Begegnung steht der standardsprachlichen Norm näher als 

Schwermut. Hier kann man gut Wortbildungsabweichungen und Gebrauchsbedingungsverschiebungen erkennen, die sich aus der Tendenz zur Kondensation ergeben. 

Der erste Blick auf die Gedichte offenbart somit sofort einen abweichenden Sprachgebrauch im idiolektal-sondersprachlich-künstlerischen Sinne von den Gebrauchsbedingungen der deutschen Hochsprache. Das gilt für die Wortsyntax und die Satzsynstax sowie die Zeichensetzung, also den gesamten pragmatischen und semantischen Inhaltsaufbau. Das Morpheminventar ist, etymologisch gesehen, gegenwartssprachlich und hochsprachlich. Stramm arbeitet mit dem poetisch-ästhetischen Mittel der „Entstellung von Standardsprache“, also der Normenverletzung bei neureflektierter Nutzung der Variablen des Systems. Die ästhetische Wirkung beruht auf der Wahrnehmung der Opposition zwischen Standardsprache und poetischer Sprache. Deshalb muß der Rezipient der Gedichte Bezugsgrammatiken der Standardsprache zur Abbildung der Entstellungen heranziehen und die neuen Gebrauchsbedingungen auf diesem Hintergrund nachvollziehen. Nur dann stellt sich die ästhetische Wirkung ein.

Stramms sprachliche Kondensation hat Einfluß gehabt auf Else Lasker-Schüler (vor 1914) und auf unsere zeitgenössischen Dichter Ernst Jandl, Peter Rühmkorf  und andere. August Stramms Sondersprache bietet Einblick in die Mechanik der deutschen Sprache überhaupt und die Möglichkeiten rationeller Benennungsweise. 

 

Stramm beutet die Norm/System-Beziehungen der Standardsprache für kondensierende Neusetzungen aus. Wer eine psychisch-historische Erklärung für dieses Sprachverhalten sucht, kann sich sicherlich auf die charakterliche Eigenart Stramms stützen, da er selbst sagt, daß sich ihm alles scharf gegensätzlich dramatisch gestaltet (an Walden, 22. März 1914). 

Stramms Kondensationsneigungen, alles in einen intensiv wirkenden Stammelausdruck oder Lautgestus zusammenzudrängen, haben nicht nur Parallelen in der Dada-Kunst, der Konkreten Poesie, man findet sie überall: in der Werbesprache: frischwärts (Coca-cola) im Abkürzungswesen, den Comic-Blasen oder der Umgangssprache. In Ostwestfalen sagt man statt: „Paßt auf die Kinder auf !“ verkürzt: „Paßt auf die Kinder! >Paßt die Kinder!“. Hier zeigt sich der Trend zur Synthetisierung des Ausdrucks im situativ-aktualsprachlichen Hier und Jetzt.

Sprachökonomische Strategien sind eine Besonderheit des uneigentlichen Sprachgebrauchs auf dem Weg zur Idiomatisierung. Auf Idiomatisierung und damit auf die Lösung von der Eigentlichkeit scheint bekanntlich jede Sprache zu zielen. Bei Stramm liegt keine Idiomatisierung in diesem Sinne vor. Er nutzt das standardsprachliche, überlieferte Morpheminventar und die gegebenen Strukturmöglichkeiten. Er will Sprachkondensation bis an die Grenzen treiben. Die Schaffung Automatischer Texte ist nicht seine Absicht. Entstehender Sprachsurrealismus ist bei tatsächlich gegebenem Aussagewillen nur das als Folge des Kondensationsprozesses unumgängliche Ergebnis. Die „von Marinetti empfohlenen Stilmittel: Zerstörung der Grammatik bzw. der herkömmlichen Syntax, Beseitigung von Adjektiv und Adverb und Abschaffung der Interpunktion“ dürfen vor allem bei August Stramm nicht als destruktive Mittel verstanden werden. Die Wörter „Zerstörung“, „Beseitigung“ suggerieren einen falschen Eindruck. Hier geht es tatsächlich um das „Eindringen in die Substanz der Materie“ mit einziger, urkräftiger, „allessagender“, alleserfassender Geste. Der dichterischen Vorstellung Stramms ist fern, in den Gedichten mit Verrätselungen Geheimnisse zu wahren. Ein solcher Zug zum offenen Kunstwerk, sich mit dichterischen Aussagen in Opposition zur Informationswelt der Ja/Nein-Entscheidungen zu begeben, ist ein ganz moderner Zug. Das Geheimnis der Kundgaben Stramms liegt paradoxerweise in der Klarheit essentieller Feststellungen. Die Unterscheidung von Wahrheit und Wirkung in der Dichtung gilt hier nicht. Wahrheitsorientierung und Wirkungsorientierung fallen zusammen. Detailliertheit von Aussagen ist somit sein Formzweck nicht. Er sucht sprachliche Materieverdichtung zum Zwecke der Substanzbildung mit dem Wirkungsziel „Einschlag“. Das mag, um im Bild zu bleiben, ein splitternder Einschlag sein. Die Wucht einer All-Erfahrung aber muß gegeben sein. Einfühlung gibt es nicht: Das Kommen / Schreit!. Kriegserfahrung ist vorweggenommen. Mittels vielfältiger Sprachexperimente hat sich der hier beobachtbare Stil August Stramms in den Jahren 1912/13 ausgeprägt. 

Die Suche nach dem literarischen und künstlerischen Umfeld führt zur Wortkunst des Sturm-Kreises um Herwarth Walden, der August Stramm ab 1913 kunsttheoretischer Freund und Verleger ist. Wir erkennen an Stramms Gedichten sofort Herwarth Waldens manifestierendes Literaturprogramm:

Das Material der Dichtung ist das Wort.

Die Form der Dichtung ist der Rhythmus.

Wortkunst also ist beabsichtigt, nicht Satzkunst. Die Wortkunst macht den Satz überflüssig. Der Satz als pragmatisch-funktional gewordenes Wort/Lexem wird nicht gebraucht. Syntaktische Satzbeziehungsmittel: Wortstellung, Präpositionen, Kasus, spielen also kaum eine Rolle. Die Einzelwörter scheinen sich zu isolieren; das „einzige allessagende Wort“ wäre das Ideal. Wo diese Reduktion nicht gelingt, schaffen Merkmalkongruenzen Verklammerungen. Immer aber bleibt auch jetzt die Zurückführung auf ein Grundmorphem leitend:

Tief/Stummen/Wir. Die Kondensation dreht bewußt alle analytischen Bildungen um. Es werden Zusätze weggelassen, die normativ obligatorisch sind; Stramm setzt ganz auf das Fakultative, das ausgelassen werden kann. Freie Hinzufügungen verdampfen in der Hitze der Verschmelzung sofort. Wie beim analytischen Urteil, soll sich alles aus dem genannten Zentralwort/begriff ableiten lassen. Auf die besondere Form der Merkmalbündelung kommt es an: Null-Morpheme spielen eine Hauptrolle. Gerade die Auslassungen an sich erforderlicher grammatischer Einheiten, die Nichtbesetzung von Leerstellen lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers:

Blicke suchen ?

Du wiegst und wiegst ?

Leben sehnt ?

Ein Konzentrat ist in der Regel nur wieder verdünnt genießbar. Doch das Konzentrat ist hier gewollt und gesucht: So fühle ich manchmal die Welt als Ich, das ganze All“.

Nun einige Beobachtungen bei der Setzung von Formationsmorphemen: Das Nicken hakt und spannt könnte normalsprachlich aufgelöst werden zu: das (Zu)nicken (ver)hakt (sich und ist ver)spannt. Die Tendenz zur Reduktion aufs Grundmorphem: (*zer-)reißt, (*zu)nicken, (*ver)stummen. Bei der Bedeutungsanalyse muß die Opposition Affix vs. Null ausgewertet werden. Redundant wirkende Synonymenbildung: Zagen lahmet fort. Fort ist kein Präfix zu lahmet, sondern adverbiale Ergänzung. Deutlicher ist dieses Phänomen in: Greifen haschet blind. Alle Verfahren dienen dazu, das eine Inhaltsziel des Gedichts herauszuarbeiten: Vergeblichkeit der Zuwendung. Die Zusammenschnürung der Inhaltsträger auf ein allessagendes Minimum scheint gelungen.

In dem Brief von Stramm an Walden am 11. Juni 1914 lesen wir über das Kontinuum: schamzerpört. Es setzt sich folgendermaßen zusammen: scham - zer(stört) - (em)pört. Stramm äußert sich hier zu Eingriffen des Druckers in seine Gedichte. Der Drucker hatte aus schamzerpört das Wort schamzerstört gemacht. Stramm schreibt:

Besonders erwähnenswert erscheint mir die...vorletzte Zeile in der das Wort „schamzerpört“ zu „schamzerstört“ geworden ist. Ich weiß nicht, ob da nur 

ein Lesefehler oder eine Regung des Sprachgefühls des Druckers vorliegt. 

Jedenfalls sagt mir schamzerpört mehr als das andere. Scham und Empörung 

ringen miteinander und die Scham zerdrückt. Auch „schamempört“ sagt das lange nicht; außerdem liegt das Wesen des Wortes „empören“ meinem Gefühl nach nicht in dem „em“, das höchstens für die Wortlehre als Erklärung Bedeutung hat, für das Gefühl liegt der Begriff des Empörens aber lediglich in dem „pören“ oder vielmehr einfach vollständig in der einen Lautverbindung „pö“. Laß übrigens die beiden Striche drüber fort und der ganze Begriff stürzt zusammen! Deshalb halte ich schamzerpört hier für das einzige allessagende Wort. 

Sicherlich sollte man den folgenden Briefzusatz nicht vergessen:

Ich trau dem Drucker nicht, der denkt!

Drucker stecken im Gefängnis der Norm, und, was nicht gewohnt ist, erscheint ihnen falsch, wenn nicht ungehörig. Sie sind empört, aber nicht zerpört. Damit fehlt ihnen alles.

Stramm erkennt und zerlegt bei seinem obigen Erklärungsversuch das Wortkontinuum schamzerpört nicht nach den Regeln irgendeiner Wortbildungssystematik; er erkennt - nach rein psychischen Vorstellungen - für ihn wichtige Lautgesten wie pö aus em-pö-rt. Solche Lautgesten sind natürlich keine etymologisch-morphemischen Einheiten. Pö hängt er eine Bedeutung an, die zufällig erscheint. Mit pö ist der allessagende Gestus erreicht.

Ich möchte nun noch einmal hervorheben, auf was Stramm durch seinen synthetischen Sprachbau alles verzichtet. Der analytische Sprachbau folgt den Forderungen eines Gestaltungsmusters, das Äußerungsspannung hervorrufen will. Die Aufspaltung in einzelne, aber eng zusammengehörige Teile ist die Voraussetzung der vielfältigen kommunikativ-vorteilhaften Satzspannungen von der Satzklammer über die Valenzabhängigkeiten bis hin zur Thema/Rhema-Gliederung und der funktionalen Satzperspektive. Nicht zuletzt die Aufmerksamkeitssteuerung zieht daraus Vorteile. Ein uns allen bekanntes Beispiel ist die Funktionsverbbildung, die eine besonders interessante Form der Zergliederung darstellt. Hiermit werden nicht zuletzt durch topologische Besonderheiten Inhalts-Nuancen erzeugt, die mit synthetischen Verbeinheiten nie erreicht werden könnten.

Stramms Sprachmanier ist dagegen die Implosion, das Zusammenschnurren der Sprachmaterie zu Minimalvolumen und Maximaldichte. Bei der ästhetischen Wahrnehmung (Welsch) der Sprache Stramms muß der Begriff Ausdifferenzierung (Luhmann) rückgängig erfahren werden. Nicht Ausdifferenzierung, eher „Verklumpung“ von Sprache ist zu beobachten: sprachliches Lallen. „Verklumpung“ - denken Sie an die Klumpen nicht gut durchgerührter Instantsuppen. Diese Klumpen enthalten den Geschmack in konzentrierter Form:

Schreiten Streben / Leben sehnt.

Wenn sich beim Hören einer Äußerung alles auf wort-/begriffhafte Kontinuität zusammendrängt, besteht zwischen den Wörtern allein noch eine kommunikative, sich ergänzende Beziehung. Auf eine argumentative, aussagegrün

dende Beziehung, die sich in der binären Opposition, dem Gegenüberstehen von Subjekt und Prädikat ausdrückt, muß verzichtet werden, desgleichen auf eine Thema/Rhema-Gliederung, die einen schrittweisen Fortgang der Verständigung ermöglicht.

Bei der folgenden Beobachtung kann sich man deshalb fast nur auf die reziproken Umfang/Inhalt-Relation stützen. Metonymische Erscheinungen überwiegen.

Schreiten Streben / Leben sehnt. Allen genannten Wörtern ist das Merkmal Ziel gemeinsam. Aber gerade dieses Merkmal ist nicht sprachlich verwirklicht. Sehnt fehlt das obligatorische nach. Daraus ergibt sich die Möglichkeit folgender Auflösung: Schreiten sehnt; Streben sehnt; Leben sehnt. Ich leite weiter ab: Schreiten ist sehnen; Streben ist Sehnen; Leben ist sehnen. Das Ziel fehlt. Es wird sich im folgenden zeigen, wie und ob es sich einstellt oder auch nicht. Die dritte Verszeile lautet: Blicke suchen. 

Stramm möchte zurück zur unaufgespaltenen Sprach-Urmaterie. Er möchte sogar zurück zum Urlautgestus „pö“. Wenn er sagt: Laß übrigens die beiden Striche drüber (über dem „pö“, Kr.) fort und der ganze Begriff stürzt zusammen, erkennt man seine extreme Kondensationabsicht. In der Lautverbindung pö sieht er einen Lautgestus und einen Begriff im Sinne eines nominalistisch-empiristischen Denkansatzes: Wort und Begriff sind ihm gleich. 

Die nicht als Morpheme zu verstehenden Teile scham, zer, und t, die sich im Kunstwort schamzerpört um pö herum zeigen, sind ihm schon Zugeständnisse. Am liebsten schriebe er das Gedicht „pö“. Aber das würde nun doch zu hermetisch, um nicht zu sagen esoterisch sein, um noch akzeptiert zu werden.

Ich erinnere noch einmal: Analytische Sprachbau dagegen hat Sprachstrategie der semantischen Ausleuchtung von Vorstellungen. Tiefe stellt sich hier durch Vielfalt und ständig wachsende Explizitheit mittels sprachlicher Zergliederung ein. Verloren geht dafür hier die Wucht des Sprachüberfalls.

 

Versetzten sich ins Wortkabarett der Herwarth-Walden-Zeit.

Die Gedichte Schwermut und Begegnung sollen nun gedeutet werden. Sie haben nicht die später vorherrschende Kriegsthematik zum Inhalt. Das Gedicht Schwermut gestaltet Äußerungen über das stereotyp-menschliche Scheitern jeglicher Vitalität. Das Gedicht Begegnung zeigt banal lähmendes Zögern in menschlicher Verklemmung. In beiden Gedichten sind offensichtlich existentielle Leidensmomente von Scheiternden erfaßt worden. Das Gleitende und Fließende haltlos, triebhaften Fühlens meint man zu vernehmen. Hintersinn und Vagheit sind nicht zu erkennen. So ist trotzt der Normabweichungen keine erfahrungsferne Sprachwelt erzeugt, vielmehr ist anthropologische Einsicht mit kosmischen Bildern als Erfahrungswirklichkeit nachgebildet.

Das Gedicht Begegnung erfordert situatives Vorwissen und Annahmen aus der eigenen Erfahrungswelt des Rezipienten. Die Wortfelder deuten auf anthropologisch-psychologischen Fakten: Schreiten Streben / ... Sterben wächst; Dein Gehen lächelt in mich über. Eine poetologische Zuordnung und Zuordnung zu historischen Zeitgeistfragen, Ideengehalten und psyhopathographischen Themen soll hier nicht vorgenommen werden.

Die Topologie standardsprachlicher Syntax ist in den Gedichten ansatzweise zu erkennen, aber schließlich durch die Ein-Wort-Manier unsicher. Topologische Besonderheiten gibt es aber dennoch, weil die Zuordnung der Syntagmen zueinander durch syntaktische Lücken schwebend bleibt:

Leben sehnt < ? ?>¸Im Schatten deines Rocks...schleudert  <?>; Dein Gehen lächelt in mich über.

Schwermut

Greifen wir auf valenztheoretische Abhängigkeitsvorstellungen zurück, so zeigen sich im Text Schwermut fünf strukturelle Zentren (prädikative Syntagmen): sehnt, suchen, wächst, Schreit! und Stummen. Die Flexionsmorphe kongruieren mit folgenden Nominativsyntagmen:

Leben sehnt

Blicke suchen

Sterben wächst

Das Kommen Schreit!

wir stummen (tief).

Die finiten Verben setzen zwar Leerstellen; diese bleiben aber (mit der Ausnahme: tief) unbesetzt. Die Kasusrollen fallen bei der Orientierung somit aus. Stramm verwendet das Lexem sehnen ohne die obligatorische Präposition nach und das obligatorische Reflexivum sich, aber auch ohne das Präfix er- (er-sehnen). Damit ändert sich die Wertigkeit. Das sehnen muß existentiell andauernd verstanden werden, als sehnen ohne Ziel. Überträgt man diese Einsicht auf Schreiten Streben, so ist auch hier die Richtungsanzeige oder das Ziel ausgelassen: Schreiten Streben Leben sind ein Sehnen ohne Ziel. Alle Lemmata enthalten das Merkmal Vitalität. Deduzieren kann man zudem die Seme: selbstbewußt, aufrecht, mit Eifer. Es handelt sich somit um Vitalität, die aber ungerichtet ist. Diese ist Jugendlichen eigen. Sie gehen ins Leben in der Erwartung, daß sich ein Ziel einstellt. Die Ausschau nach einem Ziel wird noch ganz von der Vitalität an sich überlagert.

Man muß, um die folgenden Verse zu verstehen, vergehende/vergangene Lebenszeit ansetzen. Blicke suchen. Auch hier wird die Leerstelle nicht mit einer Rollenangabe besetzt. Wiederum soll das Verb einwertig verstanden werden. Daß das Lebensziel sich nicht wie von selbst einstellt, wird offenbar schon empfunden. Man blickt sich suchend um. Um Verständnis aufzubringen, muß Lebenserfahrung die Lücken der Textaussage füllen helfen. Die Wucht der Tatsächlichkeit bindet sich aber an das „Ausbleiben“ sowohl der sprachlichen Ergänzungen als auch des gemeinten Ziels. Schauern Stehen, zustandhafte Geschehen, sind also auch metonymisch von dem Merkmal „unsicheres Ausschau-halten“ bestimmt. Schauern muß in similarer Opposition zu er-schauern wiederum durativ verstanden werden. Alle Bedeutungsmerkmale, die mit den Lemmata Schreiten Streben Leben verbunden waren, werden jetzt umgekehrt. Unsicherheit wächst. Nach der Gewißheit nimmt auch die Hoffnung, ein Ziel zu finden, ab. Diese Lebensphase wird - nachdem wiederum vergehende Zeit anzusetzen ist - durch eine dritte abgelöst, in der das Sterben wächst. Es stirbt die Vitalität. In diesem Zustand zunehmender Vergeblichkeit ereignet sich dann das Kommen. Unerwartetes, Nichtgeahntes kommt: Das Kommen Schreit! Auch hier wird durch die Hypostasierung das Eigentliche weggelassen, das Prozessuale aber in den Vordergrund geschoben. Der Zustand der wachsenden Vergeblichkeit und das Erleiden des Unerwarteten werden aufgerufen. Daß es sich um unser aller Schicksal handelt, zeigt sich in der Ausschließlichkeit der vielleicht raunenden Schlußformel: Tief/Stummen/Wir. Das Stummen ist tief, nicht aber das Ver-stummen. Statt der Vitalität sind Stagnation und schließlich Lähmung der neue, anhaltende Zustand. Das durative Moment verstärkt sich durch tief und die Auslassung des Präfix ver-: stummen statt ver-stummen. Es gibt für den letzten Zustand kein Ende.

Das Gedicht spiegelt das Lebensdrama jedes Menschen in sprachlicher Form, die nicht zu verkürzen sein dürfte: Es ist ein Drama, von der Exposition bis zur Katastrophe, alles ist gesagt. Die Wirkung ist die Wucht der einschlagenden Erkenntnis: Tief/stummen/Wir. Es gibt nichts Hoffnungsvolles mehr zu sagen. Die Wirkung stellt sich augenblicklich ein; sie wird nicht gedanklich vorbereitet. 

In dem Gedicht Begegnung sehen wir zwar Satz- und Intonationszeichen, aber sie strukturieren die Äußerungen nur unvollständig. Auch hier wird wie in Schwermut ein Zeitablauf  lyrisch erfaßt. Stramm konzentriert sich bei der Darstellung auf die wesentlichen Störungen beim mißlingenden Ansprechen einer Frauenperson vermutlich durch einen Mann auf der Straße.

Reizüberflutung: Dein Gehen lächelt in mich über, und Selbstbeobachtung: Und/Reißt das Herz scheinen das lyrische Ich in ein cunctatorisches Verhalten zu zwingen.. Die Störungen, die sich zur Verklemmtheit steigern, werden nun durch wesentliche Angaben „hingeworfen“: Die vorübergehende Frau will er auf sich aufmerksam machen. Es mißlingt bei jedem Versuch.

Das Nicken hakt und spannt, heißt es statt standardsprachlichem: Das Zunicken verhakt sich. Er ist verspannt. Die Präfixe würden alles verderben. Nur die reinen Grundmorpheme machen das allessagende Wort.

Die Frau ist bereits an ihm vorbei: Im Schatten deines Rocks. Will er sie jetzt noch erreichen, muß er hinter ihr herrufen: verhaspelt. Verhaspelt ist eine Metapher aus dem Spenderfeld „Spinnerei“. Der Sprecher verhaspelt sich. Die Frau hat sich in der Zeit noch weiter entfernt. Will er sie erreichen, muß er hinterhergehen: Schlingern / Schleudert. Nur die Zustandsverben allein kennzeichnen den Seelenzustand. Schlingern ist eine Metapher aus dem Spenderfeld „Schiffahrt“. Schleudert ist heute wohl bereits eine Metapher aus dem Spenderfeld „Verkehrsunsicherheit“. Hier kann aber auch eigentlicher Gebrauch angesetzt werden.

Was jeder, der sich die Situation ausmalt, empfindet sagt das Wort Klatscht! Die Situation gibt ihm eine blamierende Ohrfeige.

Mit bereits größerem seelischen Abstand schätzt der Versagende die anschließende Situation ein. Er beobachtet ihr Sich-Entfernen: Du wiegst und wiegst. Ein metonymischer Sprachgebrauch, der die Syntagmen Dein Gehen lächelt in mich über und Im Schatten deines Rocks  wieder aufnimmt. 

Der Schluß ist Selbstkommentar in Form von Beschreibung und Wertung: Mein Greifen haschet blind. Greifen und Haschen gehören zu einer paradigmatischen Klasse, werden hier aber in syntagmatischer Beziehung zur Inhaltspräzisierung gebraucht. Das gilt auch für die Beziehung Zagen und lahmet im folgenden prädikativen Syntagma: Blödes Zagen lahmet fort.

Beraubt beraubt. Auch hier ist eine Dopplung, sogar gleichlautend. Zu allem lacht die Sonne ihn aus: das öffentliche Urteil über sein Versagen.

Auch hier erkennen wir wieder ein Kurzdrama mit deutlicher Zeitstaffelung: Exposition und Katastrophe in der knappsten Form mit schlimmster Wirkung: Versagen und Beleidigung.

Zusammenfassung

Genauigkeit und Seele kennen wir als literarisches Motiv bei Robert Musil. In diesem Sinnbereich bewegen wir uns auch hier. August Stramm bezieht eindeutig Position. Wenn Expansion vs Konzentration sowie Präzision vs Offenheit (Ungenauigkeit) die Gegenkräfte sind, die gleichzeitig bei jedem sprachlichen Bedeutungsaufbau um Anteil ringen, so entscheidet sich Stramm für Konzentration und scheinbare Ungenauigkeit. Er traut dem Umfang eines Wortes mehr Wirkung zu als seinem Inhalt. Der normale Sprechakt läuft nach der Prinzip: So ungenau wie möglich. Jede überflüssige Präzision vergeudete Kraft und vielleicht auch Geld. Von Ungenauigkeit sprechen wir, wenn der Bedeutungsumfang auf Kosten des Inhalts vergrößert wird. Stramm vollbringt aber das Kunststück, durch die syntagmatische Beziehung weniger, besonders ausgesuchter Bedeutungsträger mit Bedeutungsumfang eine existentielle Wirkung zu erzeugen, die den Leser wehrlos macht gegen den Einschlag. Eine „lyrische Bombe“ trifft. - Es ist die Sprache der Gewaltkonzentration. Sie suchten die Tatsachen seines Werkes und sie fanden die eine: den Tod., so faßt Herwarth Walden den Umgang mit den dichterischen Eigenarten Stramms zusammen.

Die sprachliche Erscheinung von Expansion hat einen analytischen Hintergrund. Die entstehenden Einzelwörter können beweglich mit hoher Genauigkeit durch paradigmatische und syntagmatische Prozesse sowie durch topologisches Raffinement eine gewollte Bedeutung einkreisen und semantische Aufmerksamkeitssteuerungen durchführen. Denken Sie in Schnittmengen! 

Und genau diesem Trend schließt sich Stramm nicht an. Er synthetisiert, indem er Ausdrucksvielfalt reduziert. Da in keiner Sprache echte Verluste auftreten, vielmehr Sterbendes durch neue Ausdrucksmöglickeiten ersetzt wird, so bedeutet die Sprachkondensierung Stramms auch keinen Sprachverlust. Er nutzt die Vielfältigkeit der synchronischen Systeme, indem er gezielt gegen ihre Strukturen verstößt. Er erreicht damit Bedeutungen, die genauer eine Seelentatbestand erfassen, als es mit normgerechter Darstellung möglich wäre.

Das dichterische Verfahren Stramms ist eine Fundgrube für die Valenz- und Kasusrollentheoretiker sowie die Wortbildungsforscher. Was sie in der deutschen Sprache als regelhaft beobachtet haben und zum Maß der Standardsprache gemacht haben, bestätigt sich hier paradoxerweise durch die gelungene entstellende Nutzung des Systems. Gerade die sichere Kenntnis der normativen Gebrauchsbedingungen ermöglicht das Erlebnis, die existentieller Feststellungen August Stramms nachzuvollziehen.

Die Bühne seiner Gedichte ist das literarische Kabarett. Nur hier kann der sprachgestischen Proklamation die gestalterische Exklamation ergänzend hinzutreten.